Zeitzeugin Liesel Binzer im Gespräch
Meine Großeltern hatten insgesamt acht Kinder. Nur drei davon haben den Holocaust überlebt.“ Als Liesel Binzer diesen Satz sagt, sind die 150 Schülerinnen und Schüler in der Mensa so still, dass man das Fallen einer Stecknadel hören könnte.
Liesel Binzer war von der Fachschaft Geschichte ans PGW eingeladen worden, um den Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassen sowie der Kursstufe ihre Geschichte zu erzählen. Denn sie, eine im Jahre 1936 in Münster geborene Jüdin, hat als Kind den Holocaust im KZ Theresienstadt überlebt.
Und niemand - so war man sich in der Fachschaft schnell einig - kann Geschichte und insbesondere die Grausamkeiten des Holocaust so lebendig und eindrücklich vermitteln, wie jemand, der dies selbst erlebt hat. Daher hatte Matthias Pöhler den Verein „Zeugen der Zeitzeugen“ kontaktiert, der Begegnungen zwischen Überlebenden des Holocausts und der heranwachsenden Generation vermittelt. Auf diese Weise kam Liesel Binzer ans PGW.
Nach kurzen Begrüßungsworten von Matthias Pöhler und Gina Porteck eröffnete die Klasse 6b, unterstützt von Tara Grebe aus der 7a als Solistin und begleitet von ihrem Musiklehrer, Jochen Seitz, die Veranstaltung mit dem Lied „Brüder“ von Pur:
Stell dir vor,
dass Brüder endlich Brüder sind,
nie mehr vergoss'nes Blut,
kein Herz mehr blind!
Stell dir vor,
'ne faire Chance für jedes Kind!
Spürst du, dass wir damit nicht allein sind?
Es folgte die szenische Darstellung der Reichpogromnacht in Weinheim - damals war die Weinheimer Synagoge gesprengt worden. Sechs Zehntklässler schlüpften dabei zum Teil in die Rollen jüdischer Mitbürgerinnen und -bürger und erzählten, wie sie dieses Ereignis erlebt hatten - Gänsehaut garantiert, als Laura Müller, die zum damaligen Zeitpunkt 11-jährige Margot Seewi auf der Bühne verkörpernd, ihre Todesangst in den Raum schrie. Auch die leider allzu aktuelle Problematik wurde aufgegriffen: So stellten drei Schülerinnen und Schüler beim Zusammenkehren des hinterlassenen Scherbenhaufens die Frage, wie viele Häuser denn noch brennen müssten.
Nach dieser Einstimmung betrat Liesel Binzer die Bühne und stellte den Anwesenden zunächst ihre Biografie vor, die sie mit Fotos anschaulich machte. So erfuhren die Schülerinnen und Schüler, dass Binzers Vater als Soldat im ersten Weltkrieg gedient hatte und dabei so schwer verletzt worden war, dass ihm beiden Beine amputiert werden mussten. Mucksmäuschenstill wurde es im Raum, als Liesel Binzer von ihrer Deportation nach Theresienstadt erzählte. So erinnerte sie sich daran, dass sie - trotz drückender Hitze im Juli 1942 - von ihrer Mutter aufgefordert worden war, mehrere Pullover übereinander anzuziehen. „Meine Mutter war eine sehr kluge Frau. Sie hat wohl geahnt, dass wir die Koffer abgenommen kriegen und dann nur noch das haben würden, was wir sprichwörtlich am Leib tragen.“
In Theresienstadt angekommen, folgte für die sechsjährige Liesel eine äußerst harte Zeit, da sie - von den Eltern getrennt - zunächst im sogenannten Kinderheim untergebracht wurde, bis sie schwer an Masern und Scharlach erkrankte. Dass sie diese Krankheiten trotz der unzureichenden ärztlichen Versorgung und ebenso die darauffolgende Zeit bis Kriegsende in Theresienstadt überstand, kann sie sich bis heute nicht richtig erklären. Denn Schätzungen zufolge überlebten von den 15.000 nach Theresienstadt deportierten Kindern nur etwa 150 das Kriegsende.
In Ihrem Vortrag waren es vor allem die Kleinigkeiten, die immer wieder Gänsehaut aufkommen ließen. So erinnerte sich Liesel Binzer zwar daran, dass ihr im Kinderheim heimlich lesen und schreiben beigebracht wurde - erzählte aber im selben Atemzug von den schweren Tritten, die einen nahenden SS-Wachmann ankündigten. „Und dann hieß es: Schnell weg mit den Sachen, sonst passiert was!“
An den Vortrag Binzers knüpfte ein Interview mit Schülerinnen und Schülern der Klasse 9 an, das diese mit ihrer Geschichtslehrerin, Gina Porteck, im Unterricht vorbereitet hatten. Unaufdringlich, ohne sensationsgierig zu wirken, aber dennoch mutige Fragen stellend, meisterten die vier Schülerinnen und Schüler diese durchaus anspruchsvolle Aufgabe. So entlockten sie Liesel Binzer eine positive Erinnerung an die Zeit im Konzentrationslager: eine heimlich gebackene Torte zu ihrem Geburtstag. „Dabei wusste ich noch nicht einmal, dass mein Geburtstag war!“ Aber auch vor emotional schwierigen Fragen scheuten die Interviewenden nicht zurück. Auf die Frage nach ihrer schlimmsten Erinnerung antwortete Liesel Binzer, es seien die anderen Kinder gewesen, die immer weniger wurden - die quasi über Nacht verschwanden. Auf Nachfragen sei ihr immer gesagt worden, „die gehen irgendwohin, wo es ihnen besser geht. - Aber ich habe geahnt, dass das gelogen ist.“
Nach dem Interview öffnete Liesel Binzer die Fragerunde für das Publikum. Anfangs noch etwas zögerlich zeigten die anwesenden Schülerinnen und Schüler dann recht schnell, wie sehr sie das Thema fesselte. Es wurden viele Fragen gestellt, die Liesel Binzer, ohne zu zögern, beantwortete. So erfuhren die Zuhörerinnen und Zuhörer, dass sie es nie bereut habe, Jüdin zu sein, denn „ich hatte ja keine Wahl. Jüdin ist man von Geburt“ oder was Binzer von rechtspopulistischen Parteien wie der AfD hält („Ich beobachte diese Entwicklung mit Sorge.“). Auch die Sechstklässler zeigten, dass das Thema sie nicht kaltgelassen hatte. Liesel Binzer nahm es gelassen und beantwortete einige Fragen mit Humor: „Wie es dazu gekommen ist, dass die Juden verfolgt wurden? Nun, manche behaupten, die Juden hätten Jesus getötet. Ich kann euch versichern: Ich wars nicht!“
Die gelungene Veranstaltung klang mit einem weiteren, überaus passenden musikalischen Beitrag aus: Die Klasse 6b und Tara Grebe sangen das Lied „Neue Brücken“ von Pur:
Neue Brücken, über Flüsse, voller dummer Arroganz,
Neue Brücken über Täler tiefster Intoleranz,
Neue Brücken, neue Wege aufeinander zuzugehen,
Ganz behutsam, voller Achtung, miteinander umzugehen.
Genau dies, so auch das Schlusswort Liesel Binzers, sollten die Schülerinnen und Schüler heute mitnehmen: gegenseitigen Respekt und Toleranz - und die geschärfte Aufmerksamkeit dafür, dass sich Geschichte niemals wiederhole.